Definition der Thalassämie
Die Thalassämie ist eine Gruppe von genetischen Erkrankungen, die meist autosomal-rezessiv vererbt werden. Sie sind durch eine quantitative Störung der Hämoglobinsynthese charakterisiert, bei der die Bildung einer oder mehrerer Globinketten des Hämoglobins vermindert ist oder gänzlich fehlt. Dies führt zu einer korpuskulären hämolytischen Anämie, die sich typischerweise als hypochrome, mikrozytäre Anämie manifestiert.
Epidemiologie
Thalassämien treten gehäuft in bestimmten geografischen Regionen auf. Während α-Thalassämien vor allem in subtropischen Malaria-Endemiegebieten vorkommen, sind β-Thalassämien, die häufigste Form, besonders im Mittelmeerraum (z.B. Türkei), im Nahen und Mittleren Osten sowie in Teilen Asiens und Afrikas verbreitet.
Pathophysiologie
Die Pathophysiologie der Thalassämie ist durch zwei zentrale Mechanismen gekennzeichnet: eine extravasale Hämolyse und eine gesteigerte, aber ineffektive Erythropoese im Knochenmark. Die produzierten Erythrozyten sind pathologisch verändert:
- Hypochromie: Sie weisen einen verminderten Hämoglobingehalt auf (MCH erniedrigt).
- Mikrozytose: Sie sind kleiner als normal (MCV erniedrigt).
Diese ineffektive Bildung und der vorzeitige Abbau der roten Blutkörperchen führen zu den klinischen Symptomen der Anämie.
Symptomatik und klinische Formen
Das klinische Bild der Thalassämie ist sehr variabel und hängt von der betroffenen Globinkette (α oder β) und dem Ausmaß des Gendefekts ab.
α-Thalassämie
Die Schwere der α-Thalassämie korreliert mit der Anzahl der defekten α-Globin-Genkopien. Die Spanne reicht von asymptomatischen Trägern (α-Thalassaemia minima) über eine leichte Anämie (α-Thalassaemia minor) bis hin zur schweren HbH-Krankheit mit ausgeprägter hämolytischer Anämie, Hepatosplenomegalie und kardialen Problemen. Die schwerste Form, das Hb-Barts-Hydrops-fetalis-Syndrom, bei dem alle vier Genkopien defekt sind, ist nicht mit dem Leben vereinbar.
β-Thalassämie
Die β-Thalassämien verlaufen insgesamt schwerwiegender. Man unterscheidet hauptsächlich drei Formen:
- β-Thalassaemia minor: Heterozygote Träger sind meist klinisch unauffällig oder zeigen nur milde Anämiesymptome.
- β-Thalassaemia intermedia: Diese Form zeigt ein breites klinisches Spektrum, von asymptomatischen Verläufen bis zu schweren, transfusionsbedürftigen Zuständen.
- β-Thalassaemia major (Cooley-Anämie): Dies ist die schwerste Form. Symptome wie Blässe, Ikterus und eine massive Hepatosplenomegalie treten bereits in der frühen Kindheit auf. Es kommt zu schweren Skelettveränderungen ("Bürstenschädel", Facies thalassaemica) und Entwicklungsverzögerungen. Die Prognose ist ernst: Patienten sind lebenslang auf Bluttransfusionen angewiesen und versterben unbehandelt im frühen Kindesalter. Eine Hauptkomplikation der notwendigen Transfusionstherapie ist die Eisenüberladung (Hämosiderose), die zu schweren Organschäden, insbesondere am Herzen, führt.
Diagnostik
Die Diagnose stützt sich auf die klinische Untersuchung, Laborbefunde und spezialisierte Tests.
Körperliche Untersuchung
Typische Befunde bei schweren Formen sind Blässe, Ikterus, eine ausgeprägte Hepatosplenomegalie sowie charakteristische Skelettveränderungen wie ein "Bürstenschädel" im Röntgenbild und eine hohe Stirn.
Labordiagnostik
Das Blutbild zeigt eine hypochrome, mikrozytäre Anämie. Entscheidend für die Abgrenzung zur häufigen Eisenmangelanämie sind die Eisenparameter: Ferritin und Serumeisen sind bei der Thalassämie normal bis erhöht. Im Blutausstrich sind häufig sogenannte Targetzellen (Schießscheibenzellen) sichtbar. Die definitive Diagnosesicherung erfolgt durch die Hämoglobin-Elektrophorese, welche die veränderten Hämoglobin-Fraktionen nachweist. Bei unklaren Fällen oder zur Pränataldiagnostik kann eine molekulargenetische Untersuchung erforderlich sein.
Therapie
Die Behandlungsstrategie richtet sich nach dem Schweregrad der Erkrankung.
- Kurative Therapie: Die einzige heilende Behandlungsoption ist die allogene Knochenmark- oder Stammzelltransplantation von einem HLA-identischen Spender.
- Konventionelle Therapie: Bei Patienten mit β-Thalassaemia major sind lebenslange Bluttransfusionen zur Korrektur der Anämie notwendig. Um die daraus resultierende Eisenüberladung zu behandeln und Organschäden vorzubeugen, ist eine begleitende Chelattherapie zur medikamentösen Eisenausscheidung unerlässlich.