Definition des Polytraumas
Ein Polytrauma ist definiert als eine Mehrfachverletzung, bei der mindestens zwei schwere Verletzungen in verschiedenen Körperregionen gleichzeitig auftreten. Nach der klassischen Definition nach Tscherne muss dabei mindestens eine Verletzung oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich sein. Ein objektiver Maßstab zur Schweregradeinschätzung ist der Injury Severity Score (ISS), wobei ein Wert von über 15 Punkten (≥ 16) als Polytrauma gilt.
Epidemiologie
Vom Polytrauma sind vor allem junge Menschen zwischen 20-29 Jahren sowie Personen zwischen 50-59 Jahren betroffen. Männer verunfallen etwa doppelt so häufig wie Frauen. Die häufigste Ursache sind mit zwei Dritteln der Fälle Verkehrsunfälle.
Strukturierte Übergabe im Schockraum: Das ATMIST-Schema
Die präklinische Übergabe eines Traumapatienten an das Schockraumteam erfolgt standardisiert nach dem ATMIST-Schema, um einen schnellen und vollständigen Informationsfluss zu gewährleisten:
- A (Age): Alter und Name des Patienten.
- T (Time): Zeitpunkt des Unfallereignisses.
- M (Mechanism): Unfallmechanismus, z.B. Hochgeschwindigkeitstrauma oder Sturz aus großer Höhe.
- I (Injury): Vermutete Verletzungen, systematisch von Kopf bis Fuß.
- S (Symptoms/Signs): Vitalparameter und Befunde nach dem (c)ABCDE-Schema (z.B. GCS, Pupillenstatus, Kreislaufsituation).
- T (Treatment): Bisher durchgeführte Maßnahmen wie Intubation, Volumengabe oder die Gabe von Tranexamsäure.
Algorithmus für Traumapatienten im Schockraum
Die Versorgung im Schockraum folgt einem strukturierten Algorithmus, der in mehrere Phasen unterteilt ist.
Primary Survey (Erstuntersuchung)
In dieser initialen Phase laufen mehrere Prozesse parallel ab, um lebensbedrohliche Zustände sofort zu erkennen und zu behandeln. Die Untersuchung orientiert sich am cABCDE-Schema und wird kontinuierlich reevaluiert.
- Standardmonitoring: Umfasst EKG, Blutdruckmessung, Pulsoxymetrie, Kapnografie (bei beatmeten Patienten) und die Messung der Körperkerntemperatur.
- Bildgebung: Initial erfolgt eine eFAST-Sonografie (extended Focused Assessment with Sonography for Trauma). Bei vital gefährdeten Patienten ist die Ganzkörper-Computertomografie, die sogenannte "Traumaspirale", der Goldstandard. Alternativ kann konventionelles Röntgen (Thorax, Becken, HWS) eingesetzt werden.
- Diagnostik (Adjuncts): Eine Blutgasanalyse (BGA), viskoelastische Gerinnungstests (z.B. ROTEM/TEG), Laktatbestimmung und die Bereitstellung von Kreuzblut sind essenziell.
Red Flags: Klinische Warnzeichen
Bestimmte Befunde im Primary Survey deuten auf unmittelbar lebensbedrohliche Verletzungen hin und erfordern sofortiges Handeln:
- Steigender Beatmungsdruck: Kann auf einen Spannungspneumothorax oder eine Atemwegsverlegung hindeuten.
- Hohes Laktat: Ist ein Indikator für eine relevante Organhypoxie durch Schock.
- Herzrhythmusstörungen: Können durch eine Myokardschädigung, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma oder Hypothermie verursacht werden.
- Fehlende Pulse (Leiste/Kniekehle): Verdacht auf eine Aortendissektion nach einem Dezelerationstrauma.
- Bradykardie und Hypotonie: Starke Hinweise auf eine traumatische Rückenmarksverletzung.
- "Swinging Heart" in der Echokardiografie: Pathognomonisch für eine Perikardtamponade.
Management der traumainduzierten Koagulopathie
Die Gerinnungsstörung ist ein kritischer Faktor bei Polytraumata. Die Therapie umfasst:
- Tranexamsäure: Frühzeitige Gabe von 1g zur Hemmung der Fibrinolyse.
- Transfusion: Gabe von Erythrozytenkonzentraten (EK), gefrorenem Frischplasma (FFP) und Thrombozytenkonzentraten (TK), idealerweise im Verhältnis 4:4:1. Der Ziel-Hb nach Stabilisierung liegt bei 7–9 g/dl.
- Fibrinogen: Substitution bei Mangel, Zielwert > 1,5 g/l.
- Weitere Ziele: Aufrechterhaltung von Normothermie, Normokalzämie und einem ausgeglichenen pH-Wert.
Secondary Survey (Zweituntersuchung)
Nachdem lebensbedrohliche Zustände im Primary Survey behandelt wurden, erfolgt eine detaillierte körperliche Untersuchung von Kopf bis Fuß. Ein wichtiger Bestandteil ist der "Log-roll", bei dem der Patient achsengerecht gedreht wird, um die Wirbelsäule und den Rücken vollständig zu inspizieren.
Therapieentscheidung und Operationsstrategie
Nach Abschluss der Diagnostik wird über die weitere Strategie entschieden. Hierbei wird zwischen "Damage Control Surgery" (DCS), bei der nur lebensrettende Eingriffe zur Blutstillung und Kontaminationskontrolle erfolgen, und "Early Total Care" (ETC) mit definitiver Versorgung der Verletzungen unterschieden.
Absolute Indikationen für eine Notfalloperation sind:
- Unkontrollierbare Blutung
- Spannungspneumothorax
- Perikardtamponade
- Offenes Schädel-Hirn-Trauma mit Raumforderung
- Kompartmentsyndrom
- Sub- oder Epiduralhämatom mit neurologischer Verschlechterung
Weitere Entscheidungen betreffen interventionelle Verfahren wie eine Angioembolisation, die Notwendigkeit einer Massivtransfusion und die Verlegung auf die Intensivstation, in den OP oder in eine Spezialklinik.
Diagnostik und Indikationen zur Schockraumaktivierung
Die Entscheidung zur Alarmierung des Schockraumteams basiert auf dem Unfallmechanismus, den Vitalparametern und spezifischen Verletzungsmustern. Wichtige Indikationen sind:
- Hochrasanztrauma (z.B. Verkehrsunfall mit hoher Geschwindigkeit)
- Sturz aus großer Höhe (> 3 Meter)
- Einklemmung des Patienten
- Tod eines Mitfahrers
- Pathologische Vitalparameter (z.B. Hypotonie, Tachykardie, niedrige Sauerstoffsättigung)
- Spezifische Risikogruppen wie Schwangere (> 20. SSW), Patienten unter Antikoagulation oder sehr junge/alte Patienten.