Definition der Multiplen Sklerose (MS)
Die Multiple Sklerose, kurz MS, ist eine chronisch-progrediente, demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Bei dieser Autoimmunerkrankung werden die Myelinscheiden (Markscheiden), die isolierenden Hüllen der Nervenfasern, geschädigt. Dies führt zu einer gestörten oder verlangsamten Reizweiterleitung, was die vielfältigen neurologischen Symptome verursacht.
Ätiologie und Pathomechanismus
Die genaue Ursache (Ätiologie) der MS ist nicht vollständig geklärt, es wird jedoch von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen. Eine genetische Prädisposition, erkennbar an einer familiären Häufung, spielt ebenso eine Rolle wie bisher nicht vollständig identifizierte Umweltfaktoren, die eine autoimmune Reaktion gegen die Myelinscheiden auslösen.
Symptomatik der Multiplen Sklerose
Die MS wird oft als "Krankheit mit den hundert Gesichtern" bezeichnet, da ihre Symptome interindividuell stark variieren. Der Verlauf ist typischerweise schubförmig, wobei neurologische Ausfälle auftreten, die sich nach einiger Zeit teilweise oder vollständig zurückbilden können. Bei der Anamnese ist es daher entscheidend, auch nach Beschwerden zu fragen, die in den letzten Monaten aufgetreten und wieder verschwunden sind.
Frühsymptome
Zu den häufigsten Erstsymptomen einer Multiplen Sklerose gehören:
- Sehstörungen: Oft in Form von Doppelbildern (Diplopie) oder einer Entzündung des Sehnervs (Optikusneuritis), die zu verschwommenem Sehen und Gesichtsfeldausfällen (Skotomen) führt.
- Sensibilitätsstörungen: Taubheitsgefühle (Hypästhesie), Kribbelparästhesien oder ein gestörtes Temperaturempfinden, häufig beginnend in den unteren Extremitäten.
- Motorische Störungen: Muskelschwäche, Gangstörungen (Ataxie) und unwillkürliche Muskelzuckungen (Faszikulationen).
- Lhermitte-Zeichen: Ein charakteristisches, elektrisierendes Gefühl, das bei Vorbeugen des Kopfes entlang der Wirbelsäule in die Extremitäten ausstrahlt.
- Weitere Symptome: Schwindel, Gleichgewichtsstörungen und seltener auch Hörstörungen wie Tinnitus.
Symptome bei fortschreitender Erkrankung
Mit dem Fortschreiten der Krankheit können die Symptome zunehmen und dauerhaft bestehen bleiben. Ein kritisches Zeichen für eine zunehmende Schädigung sind Paresen (Lähmungen). Ein klassischer Symptomkomplex im fortgeschrittenen Stadium ist die Charcot-Trias I, bestehend aus:
- Nystagmus: Unkontrollierbares Augenzittern.
- Intentionstremor: Zittern, das bei zielgerichteten Bewegungen auftritt.
- Skandierende Sprache: Eine Form der Sprechstörung (Dysarthrie) mit abgehackter, verlangsamter Sprechweise.
Verlaufsformen
Man unterscheidet hauptsächlich drei Verlaufsformen:
- Schubförmig-remittierende MS (RRMS): Die häufigste Form, gekennzeichnet durch klar definierte Schübe mit anschließender Rückbildung (Remission).
- Sekundär progrediente MS (SPMS): Entwickelt sich oft aus einer RRMS und zeigt eine kontinuierliche Verschlechterung der Symptome, unabhängig von Schüben.
- Primär progrediente MS (PPMS): Eine seltenere Form, die von Beginn an kontinuierlich fortschreitet, ohne abgrenzbare Schübe.
Diagnostik
Die Diagnose der MS wird durch eine Kombination aus klinischer Untersuchung, Bildgebung und Labortests gestellt:
- Neurologische Untersuchung: Erhebung eines vollständigen neurologischen Status zur Objektivierung der Ausfälle, inklusive Prüfung der Reflexe (Pyramidenbahnzeichen), Sensibilität, Motorik und des Lhermitte-Zeichens.
- Magnetresonanztomographie (MRT): Das MRT von Kopf und Rückenmark mit Kontrastmittel (Gadolinium) ist das wichtigste bildgebende Verfahren. Es zeigt die für MS typischen entzündlichen, demyelinisierenden Läsionen (Herde) und dient der Verlaufskontrolle.
- Liquordiagnostik: Die Untersuchung des Nervenwassers (Liquor) zeigt bei über 95 % der Patienten charakteristische oligoklonale Banden, die auf eine chronische Entzündung im ZNS hinweisen.
- Elektrophysiologie: Messungen wie die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) können eine Verlangsamung der Impulsweiterleitung durch die Demyelinisierung nachweisen.
Therapie der Multiplen Sklerose
Eine kausale Heilung der MS ist nicht möglich. Die Therapie zielt darauf ab, akute Schübe zu behandeln, das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen und Symptome zu lindern.
- Schubtherapie: Akute Schübe werden primär mit einer hochdosierten Steroidpulstherapie (z.B. Methylprednisolon i.v. über 3-5 Tage) behandelt. Bei schweren, steroidrefraktären Schüben kann eine Plasmaseparation (Plasmapherese) erwogen werden.
- Krankheitsmodifizierende Therapie: Zur Reduzierung der Schubrate und Verlangsamung der Progression werden Immuntherapeutika wie Interferon-Beta oder monoklonale Antikörper (z.B. Natalizumab) eingesetzt.
- Symptomatische Therapie: Gezielte Behandlung von Symptomen wie Spastik, Schmerzen, Blasenstörungen oder Fatigue zur Verbesserung der Lebensqualität.
Prognose
Die Multiple Sklerose ist eine chronische, nicht heilbare Erkrankung. Der individuelle Verlauf ist jedoch sehr variabel. Moderne krankheitsmodifizierende Therapien können das Fortschreiten der Behinderung deutlich verlangsamen und die Lebensqualität der Betroffenen langfristig verbessern.