Definition der akuten Nierenschädigung (AKI/ANI)
Die akute Nierenschädigung (AKI), auch als akute Niereninsuffizienz (ANI) oder veraltet als akutes Nierenversagen (ANV) bezeichnet, ist eine plötzlich einsetzende, potenziell reversible Abnahme der Nierenfunktion. Sie führt zu einem Anstieg der Nierenretentionswerte (Kreatinin, Harnstoff) und einer verminderten glomerulären Filtrationsrate (GFR).
Diagnostische Kriterien nach KDIGO
Die international anerkannten KDIGO-Leitlinien (Kidney Disease: Improving Global Outcomes) definieren die AKI anhand von Serumkreatinin und/oder Urinausscheidung. Eine AKI liegt vor, wenn eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:
- Anstieg des Serumkreatinins um ≥ 0,3 mg/dl innerhalb von 48 Stunden.
- Anstieg des Serumkreatinins auf das ≥ 1,5-Fache des Ausgangswertes innerhalb der letzten 7 Tage.
- Urinvolumen von < 0,5 ml/kg/h für eine Dauer von mindestens 6 Stunden.
Ursachen und Einteilung der AKI
Die Ursachen (Ätiologie) der akuten Nierenschädigung werden nach der Lokalisation der Schädigung in drei Hauptformen unterteilt:
Prärenale AKI (ca. 60%)
Die häufigste Form wird durch eine verminderte Nierendurchblutung (Minderperfusion) verursacht. Die Nieren selbst sind initial noch intakt. Ursachen sind:
- Hypovolämie: z.B. durch Dehydratation, Blutverlust oder Exsikkose.
- Vermindertes Herzzeitvolumen: z.B. bei Herzinsuffizienz, Myokardinfarkt oder Lungenembolie.
- Systemische Vasodilatation oder Hypotonie: z.B. im septischen Schock.
- Medikamente: Insbesondere NSAR (z.B. Ibuprofen, Diclofenac) und ACE-Hemmer/Sartane können die Autoregulation der Niere stören und eine prärenale AKI auslösen oder verschlimmern.
Bei einer prärenalen AKI versucht der Körper, Wasser und Natrium zurückzuhalten, was zu einem hochkonzentrierten (hyperosmolaren) und natriumarmen Urin führt.
Intrarenale (renale) AKI (ca. 35%)
Hier liegt die Schädigung direkt im Nierengewebe (Parenchym). Die häufigste Ursache ist die akute Tubulusnekrose (ATN), oft als Folge einer anhaltenden prärenalen Ischämie. Weitere Ursachen sind:
- Glomerulonephritiden: Entzündungen der Nierenkörperchen.
- Interstitielle Nephritis: Entzündung des Nierenbindegewebes, oft durch Medikamente oder Infektionen (z.B. Hantavirus).
- Toxische Schädigung: Durch nephrotoxische Substanzen wie bestimmte Antibiotika (z.B. Aminoglykoside), Röntgenkontrastmittel oder Zytostatika.
- Tubulusobstruktion: Verstopfung der Nierenkanälchen durch Hämoglobin (bei Hämolyse) oder Myoglobin (bei Rhabdomyolyse, "Crush-Niere").
Im Gegensatz zur prärenalen Form ist der Urin bei der intrarenalen AKI typischerweise nicht konzentriert und natriumreich, da die Tubulusfunktion gestört ist.
Postrenale AKI (< 5%)
Diese Form entsteht durch eine Abflussstörung in den ableitenden Harnwegen. Der Urin staut sich zurück (Hydronephrose), was den Druck in den Nieren erhöht und die Filtration behindert. Ursachen sind:
- Obstruktion der Harnwege: z.B. durch Nierensteine (Urolithiasis), Tumoren (Prostatakarzinom, gynäkologische Tumoren), eine vergrößerte Prostata (BPH) oder einen verstopften Blasenkatheter.
- Strikturen des Ureters oder der Urethra.
Symptome und klinischer Verlauf
Das Leitsymptom der AKI ist die Oligurie (Urinausscheidung < 500 ml/24h) oder Anurie (Urinausscheidung < 100 ml/24h), wobei auch nicht-oligurische Formen existieren. Der Verlauf kann in drei Phasen unterteilt werden:
- Initialphase: Oft asymptomatisch, die Symptome der Grunderkrankung stehen im Vordergrund.
- Olig-/anurische Phase: Gekennzeichnet durch reduzierte Harnausscheidung, was zu Überwässerung (Ödeme, Lungenödem, Hypertonie), Elektrolytstörungen (v.a. Hyperkaliämie) und Azidose führen kann.
- Polyurische Phase: Die Nierenfunktion erholt sich, was zu einer stark erhöhten Urinausscheidung führt. In dieser Phase besteht die Gefahr von Dehydratation und Elektrolytverlusten.
Diagnostik
Die Diagnostik zielt darauf ab, die AKI frühzeitig zu erkennen, den Schweregrad zu bestimmen und die Ursache zu klären.
- Labor: Bestimmung der Nierenretentionswerte (Kreatinin, Harnstoff), Elektrolyte und Blutgasanalyse. Die Urindiagnostik (Urinsediment, Natriumkonzentration, Osmolalität) hilft bei der Differenzierung zwischen prärenaler und intrarenaler AKI.
- Bildgebung: Die Nierensonografie ist entscheidend, um eine postrenale Ursache (Harnstau) auszuschließen und die Nierengröße zu beurteilen (vergrößerte Nieren bei AKI vs. Schrumpfnieren bei chronischer Nierenerkrankung).
Therapie der akuten Nierenschädigung
Die Therapie richtet sich nach der Ursache und zielt darauf ab, die Nierenfunktion zu erhalten und Komplikationen zu managen.
Kausale Therapie
- Prärenale AKI: Die wichtigste Maßnahme ist die Wiederherstellung der Nierendurchblutung durch eine adäquate Volumenersatztherapie (Infusionen), um einen ausreichenden Blutdruck zu sichern.
- Intrarenale AKI: Absetzen aller potenziell nephrotoxischen Medikamente (z.B. NSAR, bestimmte Antibiotika). Die Behandlung der Grunderkrankung (z.B. Glomerulonephritis) steht im Vordergrund.
- Postrenale AKI: Schnelle Beseitigung der Obstruktion, z.B. durch Einlage eines Blasenkatheters, einer perkutanen Nephrostomie (Nierenfistel) oder einer Ureterschiene. Diuretika sind hier kontraindiziert.
Allgemeine und symptomatische Maßnahmen
- Engmaschige Bilanzierung von Flüssigkeit, Elektrolyten und Säure-Basen-Haushalt.
- Anpassung der Ernährung (kalium- und natriumarm, kalorienreich).
- Vermeidung von Hyperglykämien.
- Dosisanpassung oder Absetzen von Medikamenten, die renal eliminiert werden.
Nierenersatztherapie (Dialyse)
Eine Notfalldialyse wird bei lebensbedrohlichen Komplikationen notwendig. Die absoluten Indikationen lassen sich mit dem Akronym "AEIOU" zusammenfassen:
- Azidose: Schwere, therapierefraktäre metabolische Azidose.
- Elektrolytstörungen: Insbesondere eine schwere, nicht anders behandelbare Hyperkaliämie.
- Intoxikationen: Vergiftungen mit dialysierbaren Substanzen.
- Overload (Überwässerung): Therapierefraktäres Lungenödem.
- Urämie: Symptomatische Urämie mit z.B. Perikarditis oder Enzephalopathie.
Komplikationen und Prognose
Die häufigsten und gefährlichsten Komplikationen sind Hyperkaliämie (kann zu Herzrhythmusstörungen führen), Überwässerung mit Lungenödem und die metabolische Azidose. Die Prognose der AKI hängt stark von der Ursache, dem Schweregrad und dem schnellen Beginn einer adäquaten Therapie ab. Obwohl die AKI potenziell vollständig reversibel ist, geht sie insbesondere bei hospitalisierten und postoperativen Patienten mit einer erhöhten Morbidität und Letalität einher und kann in eine chronische Nierenerkrankung übergehen.