Adipsie (fehlendes Durstgefühl)
Adipsie bezeichnet ein mangelndes oder vollständig fehlendes Durstgefühl. Dieser Zustand führt zu einer verminderten Flüssigkeitsaufnahme, selbst wenn physiologische Trigger wie eine erhöhte Serumosmolalität, Hypovolämie oder ein intrazellulärer Wasserverlust vorliegen.
Ätiologie
Die Ursachen der Adipsie sind vielfältig und lassen sich in zentrale und psychogene Kategorien einteilen.
- Zentrale Ursachen:
- Schädigung des Hypothalamus durch Tumoren, Traumata, Blutungen, Ischämie oder einen Hydrozephalus.
- Granulomatöse Erkrankungen wie Sarkoidose, Histiozytose und Tuberkulose.
- Vaskuläre Malformationen und zerebrale Infektionen.
- Psychogene Ursachen:
- Anorexia nervosa
- Schwere Depression
- Fortgeschrittene Demenz
- Schizophrenie
- Delirante Syndrome
Pathophysiologie
Die Durstregulation ist ein komplexer Prozess, der im Gehirn gesteuert wird. Störungen in diesem System können zur Adipsie führen.
- Zentren der Durstregulation: Der Hypothalamus (insbesondere Nucleus supraopticus und Nucleus paraventricularis) sowie die zirkumventrikulären Organe (Organum vasculosum laminae terminalis, Subfornikalorgan, Area postrema) sind entscheidend.
- Auslöser des Durstgefühls: Normalerweise wird Durst durch einen Anstieg der Plasmaosmolalität (> 285 mosmol/kg), einen Abfall des intrazellulären Volumens, eine Reduktion des effektiven arteriellen Blutvolumens, die Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) und die Ausschüttung von ADH ausgelöst.
Symptomatik
Die Leitsymptome der Adipsie sind direkte Folgen der Dehydratation:
- Fehlende Flüssigkeitsaufnahme
- Trockene Schleimhäute
- Stehende Hautfalten (reduzierter Hautturgor)
- Gewichtsverlust
- Oligurie (verminderte Harnausscheidung)
- Verwirrtheit
Diagnostik
Die diagnostische Abklärung zielt darauf ab, die Ursache der Adipsie zu identifizieren.
- Basisdiagnostik: Umfasst eine ausführliche Anamnese, eine gründliche körperliche Untersuchung, die Flüssigkeitsbilanzierung und tägliche Gewichtskontrollen.
- Labordiagnostik:
- Blut: Bestimmung von Serumosmolalität, Serumnatrium, Serumkalium, Kreatinin und Harnstoff.
- Urin: Messung der Urinosmolalität und Durchführung eines Urinstatus.
- Weiterführende Diagnostik:
- Zur Abklärung zentraler Ursachen ist ein kranielles MRT mit Kontrastmittel essenziell.
- In Notfällen kann eine kranielle CT (cCT) durchgeführt werden.
- Ein Durstversuch unter strengem Monitoring kann zur funktionellen Beurteilung dienen.
- Eine psychiatrische Evaluation und eine endokrinologische Abklärung sind je nach Verdacht indiziert.
Differenzialdiagnosen
Von der Adipsie müssen andere Störungen des Wasserhaushalts abgegrenzt werden:
- Diabetes insipidus centralis und renalis
- Primäre Polydipsie
- Zerebrale Salzverlustsyndrome
- Hypernatriämie anderer Genese
Therapie
Die Behandlung richtet sich nach der Akuität und der zugrundeliegenden Ursache.
- Akuttherapie:
- Kontrollierte parenterale Flüssigkeitszufuhr zur Rehydratation.
- Langsame Korrektur der Hypernatriämie (maximal 0,5 mmol/l/h), um zerebrale Komplikationen zu vermeiden.
- Engmaschige Kontrollen der Elektrolyte und Vitalparameter.
- Thromboseprophylaxe.
- Kausale Therapie: Behandlung der Grunderkrankung, z.B. neurochirurgische Intervention bei Tumoren, antibiotische Therapie bei Infektionen oder Immunsuppression bei Granulomatosen.
- Supportive Maßnahmen:
- Einführung einer geregelten Trinkmenge nach einem festen Zeitplan.
- Sorgfältige Dokumentation der Flüssigkeitszufuhr.
- Regelmäßige Gewichtskontrollen.
- Schulung von Patienten und Angehörigen.
Komplikationen
Unbehandelt kann eine Adipsie zu schwerwiegenden und lebensbedrohlichen Komplikationen führen:
- Therapierefraktäre Hypernatriämie und hyperosmolares Koma
- Thromboembolische Ereignisse (z.B. Lungenembolie, Schlaganfall)
- Zerebrale Krampfanfälle
- Akutes Nierenversagen
- Kardiovaskuläre Dekompensation
Prognose
Die Prognose ist stark von der Grunderkrankung abhängig. Bei strukturellen Hirnschädigungen ist die Adipsie oft irreversibel. Bei behandelbaren Ursachen, wie psychogenen Störungen, besteht die Möglichkeit einer Besserung. Wiederholte Episoden schwerer Dehydratation (Exsikkose) erhöhen die Mortalität signifikant.